Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg Az.: 6 Sa 1586/17
TV Ratio hat Vorrang gegenüber Anbietungsverfahren
Regelmäßig werden die Beschäftigten der DTAG und ihren Tochtergesellschaften mit Umorganisationen konfrontiert. Gleiches gilt für das sogenannte Anbietungsverfahren für die Arbeitsplätze, die nach dem Umbau verfügbar sind. Da infolge der strukturellen Maßnahme meist weniger Stellen als vorher vorhanden sind, ziehen einige Mitarbeiter den Kürzeren. Die Gründe für die Bevorzugung der Kollegen bleiben intransparent. Manche Betroffene fühlen sich schon zu einem früheren Zeitpunkt diskriminiert, denn Kommissionen treffen anhand von undurchsichtigen Kriterien eine Vorauswahl, für welche selektierten Jobangebote sich die einzelnen Beschäftigten anbieten können.
Fallbeispiel eines Berliner Ausbilders
Von den Konsequenzen des vielfach kritisierten Anbietungsverfahrens war ein Berliner Mitarbeiter im Zuge der konzernweiten Umorganisation des Bereichs Ausbildung im Jahr 2016 betroffen. Die Zahl der Ausbilder reduzierte sich deutlich auf 7,3 unbefristete und 6 befristete Arbeitsplätze, für die sich 27 Beschäftigte anboten. Obwohl der Angestellte seit 17 Jahren als Junior-Referent Personalentwicklung (Ausbilder) in Berlin tätig war, wurde ihm keine der verfügbaren Stellen zugewiesen. Er wurde in eine Service- und Orientierungseinheit (SOE) versetzt, die ihn bei der Suche nach anderweitigen Beschäftigungsmöglichkeiten unterstützen sollte. Gegen die Versetzung wehrte er sich bereits, die der Konzern in weiterer Folge aufhob. Stattdessen wurde ihm die offene Stelle eines Junior-Referenten Geschäftssteuerung zugeteilt. Sowohl gegen die ursprüngliche Versetzung als auch die Folgeversetzung klagte der Beschäftigte. Während das Arbeitsgericht Berlin sein Begehren zurückwies (37 Ca 10510/16), gab das Landesarbeitsgericht der Berufung statt und schloss sich in den wesentlichen Punkten der Meinung des Klägers an (6 Sa 1786/17).
Veränderung des Tätigkeitsbereichs grundsätzlich möglich
Die Landesarbeitsrichter stellten fest, dass die Versetzung in die SOE unwirksam ist. Gleiches gilt für die Folgeversetzung auf den Posten Junior-Referent Geschäftssteuerung, da sie auf der ersten Versetzung beruht. Wesentlich ist nicht, dass der Kläger seit langer Zeit als Ausbilder tätig war. Denn eine Versetzung auf eine andere Tätigkeit in der gleichen Tarifgruppe ist grundsätzlich möglich, wenn die Aufgaben arbeitsvertraglich nicht festgelegt sind oder sich aufgrund besonderer Umstände konkretisieren. Beides traf im verhandelten Fall nicht zu. Der Knackpunkt war hingegen, dass der Arbeitgeber die Regelungen des Tarifvertrags TV Ratio (2002, aktualisiert 2004) ignorierte. Stattdessen orientierte er sich lediglich am Interessenausgleich und Sozialplan, der mit dem Betriebsrat vereinbart wurde.
Eingeschränktes Direktionsrecht des Arbeitgebers bei Umorganisationen
Der TV Ratio definiert eindeutig den Charakter einer wirtschaftlichen, organisatorischen und personellen Maßnahme. Demnach zählt das "Zukunftskonzept Ausbildung" dazu. Er regelt auch, wie bei einer derartigen Umstrukturierung vorzugehen ist. Demnach müssen alle auf den gleichen Arbeitsplätzen beschäftigte Arbeitnehmer in die Auswahl einbezogen werden. Das gilt insbesondere dann, wenn von einer Gesamtheit gleicher Arbeitsplätze, die von einer Maßnahme betroffen sind, nur ein Teil der Stellen wegfällt oder verlegt wird. Verantwortlich ist für die Auswahl die ständig eingerichtete Clearing-Stelle, während das Direktionsrecht des Arbeitgebers eingeschränkt ist. Da der Kläger Mitglied der tarifschließenden Partei ist und seit vielen Jahren in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis steht, sind die Regelungen des Tarifvertrags maßgeblich.
Widerspruch zwischen dem gängigen Anbietungsverfahren und dem TV Ratio
Zugunsten des Anbietungsverfahrens verzichtete der Arbeiter aber komplett auf das tariflich vorgeschriebene Clearing-Verfahren, was zur personellen Fehlbesetzung führte. Denn die Kriterien bei der Auswahl sind vollkommen anders gewichtet als beim Interessenausgleich und Sozialplan. Letzterer sieht vor, dass sich Mitarbeiter für einen Posten anbieten können. Vorwiegend aufgrund der Leistungseinschätzung durch den nächsthöheren Vorgesetzten werden die Bewerber ausgewählt, die am besten geeignet sind. Soziale Gesichtspunkte haben bei der Entscheidung eher einen ergänzenden Charakter.
Beim Clearing-Verfahren stehen aber die persönlichen und sozialen Gesichtspunkte des Kündigungsschutzgesetzes im Vordergrund. Die korrekte Vorgehensweise wäre demnach, alle Arbeitnehmer bestimmten Alterskategorien zuzuordnen und soziale Faktoren wie Alter, Betriebszugehörigkeit sowie Unterhaltspflichten zu berücksichtigen. Erst danach kommen Leistungsgesichtspunkte zum Zuge. Da der Kläger zum Zeitpunkt der Maßnahme 43 Jahre alt war, dem Betrieb mehr als ein Jahrzehnt zugehört und Vater von mehreren unterhaltsbedürftigen Kindern ist, wäre die Zuteilung einer Stelle sicher gewesen. Das Landesarbeitsgericht betont diesbezüglich, dass die Vorgaben des Tarifvertrags gegenüber den Vereinbarungen des Interessenausgleichs und Sozialplans vorrangig sind.
Unsachgemäße Versetzung mit Nachwirkungen
Da die erste Versetzung zur SOE unwirksam ist, gilt das Gleiche für die Folgeversetzung zum Posten Junior-Referent Geschäftssteuerung. Denn hierfür wäre der Kläger gar nicht verfügbar gewesen, wenn sich der Arbeitgeber das Clearing-Verfahren gewählt hätte. Aus dem identischen Grund wiesen die Landesarbeitsrichter das Argument des Konzerns zurück, dem Kläger fehle die Qualifikation für das neue Ausbildungskonzept, während er die Voraussetzungen für die Geschäftssteuerung mitbringe. Schließlich hätte er an der relevanten Schulung teilgenommen, wenn er bei einem ordnungsgemäßen Verfahren sofort als Ausbilder ausgewählt worden wäre.
Anbietungsverfahren auf dem Prüfstand
Das Urteil des Landesarbeitsgerichts in Berlin hat eine Signalwirkung. Denn es verdeutlicht, dass sich tarifgebundene Beschäftigte mit dem unerwünschten Ergebnis eines Anbietungsverfahrens nicht zufriedengeben müssen. Lässt sich die Entscheidung der Kommission mit den Regelungen im TV Ratio nicht vereinbaren, ist die Versetzung anfechtbar. Betriebsräte sollten diesen Aspekt bei den Verhandlungen zum Interessenausgleich und Sozialplan einer Maßnahme berücksichtigen. Es geht nicht nur darum, Rechtsstreitigkeiten zu vermeiden. Weitaus wichtiger ist es, dass die Angestellten trotz der Umstrukturierung die Berufschancen erhalten, die ihnen laut Tarifvertrag zustehen.
TV Ratio hat Vorrang gegenüber Anbietungsverfahren
Regelmäßig werden die Beschäftigten der DTAG und ihren Tochtergesellschaften mit Umorganisationen konfrontiert. Gleiches gilt für das sogenannte Anbietungsverfahren für die Arbeitsplätze, die nach dem Umbau verfügbar sind. Da infolge der strukturellen Maßnahme meist weniger Stellen als vorher vorhanden sind, ziehen einige Mitarbeiter den Kürzeren. Die Gründe für die Bevorzugung der Kollegen bleiben intransparent. Manche Betroffene fühlen sich schon zu einem früheren Zeitpunkt diskriminiert, denn Kommissionen treffen anhand von undurchsichtigen Kriterien eine Vorauswahl, für welche selektierten Jobangebote sich die einzelnen Beschäftigten anbieten können.
Fallbeispiel eines Berliner Ausbilders
Von den Konsequenzen des vielfach kritisierten Anbietungsverfahrens war ein Berliner Mitarbeiter im Zuge der konzernweiten Umorganisation des Bereichs Ausbildung im Jahr 2016 betroffen. Die Zahl der Ausbilder reduzierte sich deutlich auf 7,3 unbefristete und 6 befristete Arbeitsplätze, für die sich 27 Beschäftigte anboten. Obwohl der Angestellte seit 17 Jahren als Junior-Referent Personalentwicklung (Ausbilder) in Berlin tätig war, wurde ihm keine der verfügbaren Stellen zugewiesen. Er wurde in eine Service- und Orientierungseinheit (SOE) versetzt, die ihn bei der Suche nach anderweitigen Beschäftigungsmöglichkeiten unterstützen sollte. Gegen die Versetzung wehrte er sich bereits, die der Konzern in weiterer Folge aufhob. Stattdessen wurde ihm die offene Stelle eines Junior-Referenten Geschäftssteuerung zugeteilt. Sowohl gegen die ursprüngliche Versetzung als auch die Folgeversetzung klagte der Beschäftigte. Während das Arbeitsgericht Berlin sein Begehren zurückwies (37 Ca 10510/16), gab das Landesarbeitsgericht der Berufung statt und schloss sich in den wesentlichen Punkten der Meinung des Klägers an (6 Sa 1786/17).
Veränderung des Tätigkeitsbereichs grundsätzlich möglich
Die Landesarbeitsrichter stellten fest, dass die Versetzung in die SOE unwirksam ist. Gleiches gilt für die Folgeversetzung auf den Posten Junior-Referent Geschäftssteuerung, da sie auf der ersten Versetzung beruht. Wesentlich ist nicht, dass der Kläger seit langer Zeit als Ausbilder tätig war. Denn eine Versetzung auf eine andere Tätigkeit in der gleichen Tarifgruppe ist grundsätzlich möglich, wenn die Aufgaben arbeitsvertraglich nicht festgelegt sind oder sich aufgrund besonderer Umstände konkretisieren. Beides traf im verhandelten Fall nicht zu. Der Knackpunkt war hingegen, dass der Arbeitgeber die Regelungen des Tarifvertrags TV Ratio (2002, aktualisiert 2004) ignorierte. Stattdessen orientierte er sich lediglich am Interessenausgleich und Sozialplan, der mit dem Betriebsrat vereinbart wurde.
Eingeschränktes Direktionsrecht des Arbeitgebers bei Umorganisationen
Der TV Ratio definiert eindeutig den Charakter einer wirtschaftlichen, organisatorischen und personellen Maßnahme. Demnach zählt das "Zukunftskonzept Ausbildung" dazu. Er regelt auch, wie bei einer derartigen Umstrukturierung vorzugehen ist. Demnach müssen alle auf den gleichen Arbeitsplätzen beschäftigte Arbeitnehmer in die Auswahl einbezogen werden. Das gilt insbesondere dann, wenn von einer Gesamtheit gleicher Arbeitsplätze, die von einer Maßnahme betroffen sind, nur ein Teil der Stellen wegfällt oder verlegt wird. Verantwortlich ist für die Auswahl die ständig eingerichtete Clearing-Stelle, während das Direktionsrecht des Arbeitgebers eingeschränkt ist. Da der Kläger Mitglied der tarifschließenden Partei ist und seit vielen Jahren in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis steht, sind die Regelungen des Tarifvertrags maßgeblich.
Widerspruch zwischen dem gängigen Anbietungsverfahren und dem TV Ratio
Zugunsten des Anbietungsverfahrens verzichtete der Arbeiter aber komplett auf das tariflich vorgeschriebene Clearing-Verfahren, was zur personellen Fehlbesetzung führte. Denn die Kriterien bei der Auswahl sind vollkommen anders gewichtet als beim Interessenausgleich und Sozialplan. Letzterer sieht vor, dass sich Mitarbeiter für einen Posten anbieten können. Vorwiegend aufgrund der Leistungseinschätzung durch den nächsthöheren Vorgesetzten werden die Bewerber ausgewählt, die am besten geeignet sind. Soziale Gesichtspunkte haben bei der Entscheidung eher einen ergänzenden Charakter.
Beim Clearing-Verfahren stehen aber die persönlichen und sozialen Gesichtspunkte des Kündigungsschutzgesetzes im Vordergrund. Die korrekte Vorgehensweise wäre demnach, alle Arbeitnehmer bestimmten Alterskategorien zuzuordnen und soziale Faktoren wie Alter, Betriebszugehörigkeit sowie Unterhaltspflichten zu berücksichtigen. Erst danach kommen Leistungsgesichtspunkte zum Zuge. Da der Kläger zum Zeitpunkt der Maßnahme 43 Jahre alt war, dem Betrieb mehr als ein Jahrzehnt zugehört und Vater von mehreren unterhaltsbedürftigen Kindern ist, wäre die Zuteilung einer Stelle sicher gewesen. Das Landesarbeitsgericht betont diesbezüglich, dass die Vorgaben des Tarifvertrags gegenüber den Vereinbarungen des Interessenausgleichs und Sozialplans vorrangig sind.
Unsachgemäße Versetzung mit Nachwirkungen
Da die erste Versetzung zur SOE unwirksam ist, gilt das Gleiche für die Folgeversetzung zum Posten Junior-Referent Geschäftssteuerung. Denn hierfür wäre der Kläger gar nicht verfügbar gewesen, wenn sich der Arbeitgeber das Clearing-Verfahren gewählt hätte. Aus dem identischen Grund wiesen die Landesarbeitsrichter das Argument des Konzerns zurück, dem Kläger fehle die Qualifikation für das neue Ausbildungskonzept, während er die Voraussetzungen für die Geschäftssteuerung mitbringe. Schließlich hätte er an der relevanten Schulung teilgenommen, wenn er bei einem ordnungsgemäßen Verfahren sofort als Ausbilder ausgewählt worden wäre.
Anbietungsverfahren auf dem Prüfstand
Das Urteil des Landesarbeitsgerichts in Berlin hat eine Signalwirkung. Denn es verdeutlicht, dass sich tarifgebundene Beschäftigte mit dem unerwünschten Ergebnis eines Anbietungsverfahrens nicht zufriedengeben müssen. Lässt sich die Entscheidung der Kommission mit den Regelungen im TV Ratio nicht vereinbaren, ist die Versetzung anfechtbar. Betriebsräte sollten diesen Aspekt bei den Verhandlungen zum Interessenausgleich und Sozialplan einer Maßnahme berücksichtigen. Es geht nicht nur darum, Rechtsstreitigkeiten zu vermeiden. Weitaus wichtiger ist es, dass die Angestellten trotz der Umstrukturierung die Berufschancen erhalten, die ihnen laut Tarifvertrag zustehen.